Pressespiegel & Aktuelles

Pressespiegel & Aktuelles - Archiv von Wolfgang Schuster

Beachten Sie bitte, dass dieser Artikel vor 5912 Tagen veröffentlicht wurde.

Die Hessenwahl und ihre Folgen

Wahlrecht und Wählerbetrug

Ein Bundespräsident a. D. schlägt nach den Hessenwahlen vor, Deutschland (wieder) zu stabilisieren, indem man den "großen Volksparteien" nachhilft, den kleinen das Leben schwermacht.

Roman Herzog wünscht gewiss keine algerischen und palästinensischen Verhältnisse für die Bundesrepublik Deutschland. In jenen fernen Ländern gilt es: Freie Wahlen, ja, aber wehe, wenn die Wähler anders wählen, als es den Mächtigeren passt. Dann müssen die Wahlen abgebrochen (Algerien), die Wähler der falschen Mehrheit (Palästina) bombardiert und ausgehungert werden.

In Deutschland soll es laut Herzog, falls das Volk sich durch die machtgewohnten Volksparteien nicht mehr vertreten fühlt, einfacher und demokratischer zugehen: Das Wahlrecht wird geändert. Der Ex-Präsident der Bundesrepublik, davor ihres höchsten Verfassungsgerichts, schlägt vor, dass man die Verfassung der Republik so lange ummodelt, bis ihm (und natürlich "uns" als Stabilitätsfreunden) das Wahlergebnis recht ist. Ob das noch Recht ist?

Roman Herzog begründet seine Sorgen nicht damit, dass die paradiesischen Verhältnisse vorbei sind, in denen die beiden großen Parteien CDU und SPD sich darauf verlassen konnten, dass die dritte, kleine FDP in unregelmäßigen Abständen umschwenkt; auch nicht damit, dass eine zweite kleine Partei, die lang verketzerte grüne, sich erst allzu zögernd mit der Umfaller-Rolle anfreundet. Der Anlass für Herzogs Sorgen ist: der Sturz in Instabilität, der unserer Republik droht, wenn sich die Wähler (im Gegensatz zu den Politikern) von vier auf fünf Parteien umstellen sollten. Kurz: Herzogs Vorschlag handelt nicht von der Regierbarkeit Deutschlands, sondern vom Schrecken der Hessenwahl für beide "Volksparteien". Sein Beitrag erfordert deshalb keinen staatsrechtlich juristischen, sondern einen staatsbürgerlich politischen Einspruch.

Zwischen zwei Wortbrüchen

Die Berichterstattung deutscher Zeitungen über die Hessenwahl krankt daran, dass sie empört oder halbwegs sachlich vom "Wortbruch" reden - ohne daran zu erinnern, dass Andrea Ypsilanti vor den Wahlen nicht eine Versprechung, sondern zwei Versprechungen gegeben hat: Erstens kündigte sie an, Roland Koch als Ministerpräsidenten abzulösen, zweitens sich nicht von den Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Leider haben nicht Roland Koch oder Kurt Beck, sondern die hessischen Wähler verhindert, dass sie beide Versprechungen gleichzeitig einlöst. Was sie nun auch tut oder unterlässt: Eine ihrer beiden Versprechungen ist Schnee von gestern. Das sei "Wortbruch" und "Wählerbetrug" - so schreiben nicht nur "Bild" und "BZ", sondern auch klügere Zeitungen in ihren Schlagzeilen.

Gestatte man mir einen logischen Exkurs. Ypsilanti kann nicht die Wähler der CDU plus der FDP um ihre Stimmen betrogen haben, da diese mit 46,2 Prozent Roland Koch wählen wollten und auch wählten. Sie kann nur die 49,3 Prozent der Wähler für SPD, Grüne und Linke betrogen haben, die anders gewählt hätten, hätten sie gewusst, dass Ypsilanti bei der kommenden geheimen Wahl im Landtag notfalls bereit ist, sich auch mit sechs unerlaubten Stimmen zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. (Dass es auch "Linke"-Wähler gegeben haben kann, die sich darauf verließen, mit ihren Stimmen keiner Landesregierung der Ypsilanti-SPD in den Sattel zu helfen, wird nirgends erwogen, ist aber sehr wahrscheinlich.)

Die politisch (und logisch) richtige Frage heißt deshalb: Welcher "Wortbruch" ist dieser knappen "linken" Mehrheit (49 gegen 46 Prozent) weniger akzeptabel: Entweder Roland Koch mit einer kommissarischen (man sagt lieber: geschäftsführenden) Minderheitsregierung, solange er Lust hat, weiterregieren zu lassen, oder aber eine Minderheitsregierung mit Andrea Ypsilanti zu riskieren? Merkel, Pofalla und Koch selbst wissen, dass die Koch-Regierung unfähig wäre zu regieren, das heißt auch nur den geringsten Beschluss im Landtag durchzubringen. Ihr einziger Sinn wäre, dass Koch abwarten kann, bis türkische Jungens wieder einmal einen alten Rentner zusammenschlagen - um dann (nach einem Misstrauensantrag, den er ja jederzeit verlieren/gewinnen kann) in Neuwahlen zu triumphieren.

Heißt Gewissen: Wortbruch?

Nötig wäre es also, den SPD-, Grünen- und Linken-Wählern die triftige Frage zu stellen: Wollt ihr Koch kommissarisch oder Ypsilanti minoritär regieren lassen? Dagmar Metzger will das nun, nach neuesten Meldungen, ihr SPD-Wahlvolk fragen. Nicht auch sich selbst? Hat sie, als sie gegen Kochs Ministerin und Stellvertreterin Karin Wolff um das Direktmandat in Darmstadt-Stadt II kämpfte, niemals ihren Wählern versprochen, Kochs Regierung abzulösen? Sind ihr seit Donnerstag so universal hochgelobtes "Gewissen" und "Ehrgefühl" - selektiver Wortbruch? Diese Frage gilt nicht nur Dagmar Metzger, sondern der gesamten hessischen SPD (sogar Jürgen Walter).

Nur aus den Antworten der SPD-, Grünen- und Linken-Wähler bekäme man endlich Aufschluss darüber, welcher "Wahlbetrug" den Betrogenen lieber bzw. weniger unlieb ist. Gerade diese Frage wird aber verhindert: erstens durch eine beispiellose Hetze der Rechts-Boulevardblätter; zweitens durch eine Verdummungskampagne der Rechts-Mitte-Politiker, die genau wissen (und es eben deshalb nicht sagen), dass es nicht um Becks oder Ypsilantis Wortbruch geht, sondern um Kochs letzte Chance, die verlorenen Wahlen (die CDU büßte 12 Prozent ihrer Stimmen ein) doch noch zu gewinnen.

Hier muss man den zweiten Mangel der Berichterstattung auch der besseren Zeitungen, Rundfunk- und TV-Sender beklagen. Wer heute nur über die Umfrage-Verluste für SPD, Beck, Ypsilanti berichtet, statt zugleich über die Tsunami-Welle von demagogischer Raserei, mit der die meistgelesenen Zeitungen des Landes seit den Hessen- und Hamburg-Wahlen täglich über Volk und Politik herfallen - der schildert die Lage unvollständig, also falsch. Die meisten Leser dieser Zeilen sind bei ihrer täglichen Arbeit, wenn ich als Rentner noch im Berliner Frühstückscafé sitze, in dem neben dem "Tagesspiegel" auch die "Bild-Zeitung" und die "BZ" aufliegen, das grelle Titelblatt zuoberst. Ein solche Seuche des Hasses wie in den letzten Wochen gegen Beck und "Frau Lügilanti" wurde hierzulande seit den Dutschke-Jahren nicht mehr entfesselt.

Ist die SPD unschuldig daran, wenn ihre Umfrage-Ergebnisse sinken, wenn Kurt Beck für Rudi Dutschke einspringen muss? Die SPD hat unter der hervorragend orchestrierten Belagerung durch ihre Wahlgegner ein Versprechen abgegeben, das man in einer parlamentarischen Demokratie schwer halten kann. Ypsilanti kann bei einer geheimen Wahl keineswegs verhindern, dass Abgeordnete der SPD sie nicht wählen - weniger noch, dass Abgeordnete der Linken sie wählen. Ihr einziges sicheres Mittel wäre, sich der Wahl nicht zu stellen. Das hieße, dass der SPD Roland Koch lieber ist als Gregor Gysi. Genau dies ist der Argwohn, aus dem viele Wähler die Linken wählen wollen: laut Umfrage von Forsa (27. 2.) 12 Prozent, von Emnid (4. 3.) jäh hochgekletterte 14 Prozent bundesweit.

Die SPD hasst in Wahrheit weder Gregor Gysi noch Roland Koch - sie hasst Oskar Lafontaine. Sie wirft ihm vor, ein Verräter zu sein. Wenn man kein ewigtreues Mitglied der SPD ist, fällt es einem schwer, diese Gefühle zu teilen. Man mag Lafontaine im Fernsehen sympathisch oder unsympathisch finden - was er der SPD antat, wirkt eher wie Integrität als wie Verrat. Er ist (täuscht mich die Erinnerung nicht) erst der dritte Bundesminister in unserer Republik, also in sechzig Jahren, der freiwillig zurücktrat, weil die Beschlüsse der Regierung seinen Überzeugungen widersprachen. Der erste hieß Gustav Heinemann. Er hielt 1950 Adenauers Wiederbewaffnungskurs für schädlich und kehrte deshalb als Innenminister dem ersten Adenauer-Kabinett den Rücken.

Das hinderliche SPD-Trauma

CDU-Anhänger störten von da an Heinemanns Reden mit Pfeifkonzerten. Er hielt das als gläubiger Protestant ("Hier stehe ich und kann nicht anders") durch. 1969 - 74 war er der nach Theodor Heuß wohl ehrwürdigste Präsident der Bundesrepublik. Der zweite Abgedankte hieß Ewald Bucher, Adenauers, Erhards Justizminister 1962 - 65. Er trat zurück, weil er die Verlängerung der Verjährungsfristen für NS-Morde für rechtswidrig hielt. Dass er Mitglied der NSDAP schon vor 1933 gewesen war und das Goldene Abzeichen der Hitler-Jugend getragen hatte, sagt zwar viel gegen Adenauer und die damalige FDP, die ihn zum Justizminister machten. Es sagt nichts gegen die Konsequenz, mit der Bucher seine Rechtsansicht vertrat. Er wurde mit dem Wohnungsbauministerium entschädigt.

Kein Mensch könnte in diese Reihe passen, auch Lafontaine nicht. Doch seine Haltung scheint mir der Heinemanns näher. Er erklärte sich 1998 gegen die sozialen Abstriche in Schröders Wirtschaftplanung. Er trat 1999 nicht nur als Finanzminister, sondern auch als Vorsitzender der damals größten Bundespartei zurück. Das Ressentiment seiner einstigen Parteifreunde ist eher gewachsen, seit der Name Hartz etwas von seinem Glanz verlor und die SPD selbst die "Agenda" für revisionsbedürftig hält. Eine normale, von Verstand statt Emotion gelenkte Politik wird die SPD der PDS/Linken gegenüber nicht gewinnen, bevor sie das Trauma Lafontaine verarbeitet.

Für Roman Herzogs Ängste bringe ich wenig Einfühlung auf - und für einige Daten seines Aufsatzes noch weniger Verständnis. "Bis etwa 1980 genoss die Bundesrepublik eine erstaunliche Stabilität." Sieht er in 1986 immer noch das Jahr des Sündenfalls: als Holger Börner seine hessische Minderheitsregierung nach anderthalb Jahren Widerstand doch noch mit den damals Unberührbaren, den Grünen, ergänzte? Hat Börner damals (mit seinem neuen Minister Joschka Fischer) die Bundesrepublik gefährdet? Erscheint uns Helmut Kohls sechzehnjährige Kanzlerschaft 1982 - 98 im Rückblick als instabil?

Schade, dass es Herzog und anderen im Augenblick, wie gesagt, weniger um den nicht gefährdeten Bestand unserer Republik geht als um die verlorene Hessenwahl. Er und andere (inklusive der SPD) werden den Schock vom 27. Januar bald überstanden haben. Dann wird man der Stimme Herzogs erneut mit gelegentlichem Gewinn zuhören. Die beiden "Volksparteien" aber, an denen ihm so viel liegt, müssen selber dafür sorgen, dass sie das auch in den Augen des Volkes wieder werden. Weder die Schein-Einheitsfront der CDU noch die tägliche Streitshow der SPD tragen dazu in diesen Tagen bei.

Zurück zur Newsübersicht